Am Morgen des 26. Oktober 1786 fuhr ein Wagen mit voller Geschwindigkeit durch die Tore von Assisi. Er hatte nur ein Ziel: das Zentrum der Stadt, wo sich das befand, was heute als Piazza del Comune bekannt ist. Der Konvoi drehte auf dem staubigen Kopfsteinpflaster eine enge Kurve und hielt dann abrupt an. Das Quietschen der Räder vermischte sich mit dem Gewieher der Pferde und die Glocke der Kirche S. Maria sopra Minerva erklang, als ob die Ankunft auf dem Platz still ankündigen wollte. Ein eleganter Mann stieg vom Wagen herab, seine Augen waren rund unter seiner breiten Stirn und sein graues Haar sammelte sich in einem Pferdeschwanz, der unter seinem breitkrempigen Hut erschien. Er war nach Assisi gekommen, um nur eines zu bewundern. Er hatte davon gelesen und sich jahrelang nach diesem Besuch gesehnt, und jetzt stand er endlich davor: der Tempel der Minerva. Eines der am besten erhaltenen und bekannten Wunder der Antike.
Einige Stimmen behaupteten, dass der Tempel der Minerva acht Jahrhunderte vor der Entstehung Roms von dem legendären Dardanus, einer hybriden Gestalt der etruskischen und griechischen Mythologie, dem Vorgänger der Gründer der Stadt Troja, errichtet worden war, aber dies war ein Gründungsmythos, der von den Bewohnern der Stadt überliefert wurde, kein echter historischer Beweis. Die Legende gilt oftmals als unbegründet, birgt jedoch immer einen Hauch von Wahrheit in sich. Der elegante Mann wusste, dass der Tempel in der Form, die er mehr oder weniger intakt vorfand, erst um das erste Jahrhundert n. Chr. gebaut wurde, aber er wusste auch, dass der Grund für die Auswahl dieses bestimmten Ortes, der in der Sorgfalt der Geschichte untergegangen war, ebenso wichtig war. Tatsächlich war dort von den Römern ein Tempel errichtet worden, weil dieser Ort bereits in der Vergangenheit als heilig galt, möglicherweise aufgrund einiger Thermalquellen, und sich allmählich zum Zentrum der Spiritualität entwickelte, die in Assisi unabhängig von den Völkern und Kulturen, die die Stadt bewohnt haben, stets vorhanden war.
Der gute Erhaltungszustand des Gebäudes ist auch auf seine ununterbrochene Nutzung zurückzuführen: Nach dem Zerfall des Römischen Reichs ging es in den Besitz der Benediktinermönche von Monte Subasio über; im 13. Jahrhundert fiel es in die Hände der Stadt, die es als Gefängnis nutzte; im 16. Jahrhundert wurde es wieder zu einer Kirche, die dem Hl. Donatus gewidmet war, um im darauffolgenden Jahrhundert zur Kirche S. Maria sopra Minerva zu werden, die bis heute erhalten ist.
Der Mann betrachtete den Tempel der Minerva im Licht der warmen Morgensonne. Auf den Zeichnungen, die er in den Handbüchern von Palladio in der Weimarer Bibliothek studiert hatte, entsprachen Fassade und Größe nicht dem tatsächlichen Gebäude. Sechzehn Meter Höhe, zu der die Größe von drei Statuen, die sich auf der Spitze des Tympanums befinden, hinzukommen sollten. Es waren weibliche Statuen, wie sie im Mittelalter bei einigen Ausgrabungen gefunden wurden. Die Widmung des Tempels an die Göttin Minerva ergab sich genau aus diesem Fund, obwohl auf einer Votivtafel, die Jahrhunderte später gefunden wurde, zu lesen ist, dass der Tempel Herkules gewidmet war. Palladio hatte nicht einmal all die Löcher dargestellt, die den Architrav und das Tympanon über den Säulen umgaben. Was war das? Der Mann war zunächst überrascht, aber dann wurde ihm sofort klar: Es waren die Löcher für die Befestigung der bronzenen Buchstaben zu Ehren der Errichter des Tempels: die Brüder Cesio, Gneo Tirone und Tito.
Er beobachtete stundenlang das Gebäude vor sich. Er hatte nicht das geringste Bedürfnis, das Innere zu betreten und zu erkunden, denn er wusste, was ihn erwartete: das Kirchenschiff einer einfachen und modernen Barockkirche, die einige Jahre zuvor fertiggestellt wurde, und daran war er nicht besonders interessiert. Aber er wollte die Kirche dennoch betreten, und dabei erfüllte seine Reaktion nicht seine Erwartungen. In den vergoldeten Stuckarbeiten, in den Fresken von Francesco Appiani, die das Gewölbe schmückten, im funkelnden Altar, der das klassische Motiv der Fassade aufgriff, fand der Mann ein außergewöhnliches Gefühl der Spiritualität. Eine ewige Spiritualität, die in diesem eher einzigartigen als seltenen Fall seit ihrer Entstehung immer wieder das Gebäude durchdrungen hat. Vielleicht sogar schon früher. In einem Moment erkannte er, dass der Ort, an dem er sich befand, vielleicht der älteste heilige Ort der Welt war. Die Kraft seiner Heiligkeit hatte ihn über die Jahrtausende bewahrt und ihn vor Invasionen, Bürgerkriegen, Hungersnöten und Naturkatastrophen geschützt. Das Kreuz, die Engel und Heiligen, die in diesem Raum dargestellt wurden, schienen für ihn eine noch tiefere Bedeutung einzunehmen als sie schon hatten, falls dies möglich war.
Er bemerkte, dass er seinen Hut nicht abgenommen hatte, er schämte sich dafür, obwohl in diesem Moment niemand da war, und behob diese Unachtsamkeit hastig. Die breite Krempe erzeugte eine Luftzug, und das Licht in der Kirche, das größtenteils von einer Gruppe aus Kerzen in der Nähe stammte, flackerte für einen Moment, wie ein Husten, der von Peinlichkeit ablenkt.
Als er wieder draußen in der Sonne war, war er vom Licht und von der aufregenden Beobachtung erschüttert. Auf einmal stand er vor vier Männern, die in der Zwischenzeit von der mitten auf der Piazza abgestellten Kutsche angezogen wurden.
“Doktor!”, bedrängen sie ihn. „Möchten Sie nicht die Basilika unseres geliebten Franziskus ansehen? Sie werden sehen, wie viel Kunst in ihr verborgen ist.“ Der Mann öffnete leicht seine Augen und sprach: „Hm? Ähm…nein, danke“.
Die Männer waren überrascht, fast schon sprachlos, und eine Sekunde später verwandelte sich ihr schurkisches Lächeln in ein argwöhnisches Grinsen. „Was? Nicht einmal eine Spende haben Sie für den Armen übrig? Das zeugt nicht von gutem Verhalten“.
Johan Wolfgang von Goethe beobachtete sie genauer, nahm schnell eine Hand voll Silbermünzen aus der Tasche, überreichte sie den Männern und stieg wieder in seine Kutsche, die mit quietschenden Rädern und wiehernden Pferden so schnell verschwand wie sie gekommen war.
[Frei übersetzt aus Goethe, J., W., Italienische Reise 1786-87 (1787)]
Vom römischen Tempel sind heute noch die Vorhalle aus Marmor sowie andere kürzlich bei Ausgrabungen gefundene Elemente erhalten, darunter etwa die Seitenmauern und die Stützmauer des Erdwalls. Das Gebäude gehört der Art eines korinthischen Prostiltempels in Antis an und verfügt über eine Pronaos, die seitlich durch die Wände der Zelle begrenzt ist, mit sechs geriffelten Säulen, die auf hohen viereckigen Sockeln, Trabeation und Giebel stehen. Giotto stellte ihn im ersten der Fresken des Franziskanerzyklus der Basilica Superiore im Gemälde „Hl. Franziskus und der einfache Mensch“ dar. Das Innere der Zelle wurde bei den ersten Renovierungsarbeiten im 16. Jahrhundert zerstört. Das Fresko auf dem Gewölbe des einzigen Schiffes stellt „S. Filippo Neri in Gloria“ von Francesco Appiani dar. Die Gemälde, die die Seitenaltäre schmücken, wurden in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts ausgeführt und zeigen den „Tod des Heiligen Andreas von Avellino“ von Anton Maria Garbi und den „Tod des Heiligen Josef“ des Österreichers Martin Knoeller. Der Hochaltar, der wie die meisten Kirchen mit Darstellungen von Engeln und Putten in vergoldetem Stuck verziert ist, enthält das Gemälde „Gott mit den Engeln“ des Malers und Architekten Giacomo Giorgetti, der auch Leiter der letzten Renovierungsarbeiten im Inneren der Kirche war, die etwa zwanzig Jahre vor der Ankunft Goethes fertiggestellt wurden.