Von der Piazza Matteotti, einem der höchsten Punkte der Stadt Assisi, nach unten in Richtung Stadtzentrum gehend, erreicht man zu allererst die Piazza S. Rufino durch einen kleinen Bogen. Sobald man unter dem Bogen durchgegangen ist, befindet man sich direkt vor der Piazza, die halbrund zu seinen scheint und von der die Straßen, die durch das Herz des historischen Zentrums führen, wie Sonnenstrahlen ausgehen. Die Cattedrale San Rufino ist etwas versteckt und überraschend auf der gegenüberliegenden Seite der Piazza zu finden und bleibt beim Betreten der Piazza von den Gebäuden, die an die Fassade angrenzend verlaufen und die davor liegende Piazza begrenzen, ähnlich der Szene einer riesengroßen Bühne, verdeckt. Unser Körper ist beim Abwärtsgehen auf natürliche Weise darauf ausgerichtet nach vorne zu gehen, wohingegen unsere Augen nach hinten gerichtet bleiben, angezogen von der Reinheit des Kalks dieser Szene, die hinter unseren Schultern liegt. Sie wird von vielen als eine der schönsten Fassaden ihrer Zeit angesehen, die den Betrachter dazu zwingt stehenzubleiben, um sich nicht den Hals zu verrenken. Wer hier an einem späten Herbstnachmittag vorbeikommt, wird den Effekt noch intensiver erleben, denn die perfekten Symmetrien und Geometrien der Fassade erleuchten in feurigem Orange, das mit dem Fortschreiten des Abends langsam verblasst.
Rufinus von Assisi ist der Patron dieser Kirche und war der erste Bischof der Stadt. Er starb im 3. Jahrhundert n. Chr. als Märtyrer. Er lebte unter dem Römischen Reich und seine Heiligenlegende berichtet von einer langen Reise, um das Evangelium zu verkünden, die ihn ausgehend von der heutigen Türkei nach Italien, genauer in die Abruzzen und in die Gegend von Marsica führte, um sich anschließend in Assisi niederzulassen und Bischof zu werden. Damals wurde die christliche Religion von den Herrschern nicht geduldet, weshalb ihn der Prokonsul Aspasio pausenlos verfolgte. Nachdem Rufinus gefangen genommen wurde, musste er seinen Glauben beichten. Daraufhin wurde er zum Tode verurteilt und der Überlieferung zufolge zeigte sich ausgerechnet während seiner Hinrichtung – seiner ersten Hinrichtung – seine Heiligkeit. Er verließ den Scheiterkaufen unverletzt, um erst beim zweiten Hinrichtungsversuch, bei dem er an einen großen Felsblock gebunden in den Fluss Chiascio geworfen wurde, zu sterben. Seine Anhänger fanden den Körper im Tal, wo sich heute das zur Gemeinde Bastia Umbra gehörende Dorf Costano befindet. Die Wallfahrtskapelle Santuario del Crocifisso, die innerhalb der alten Stadtmauern des kleinen Ortes liegt, erinnert an dieses Ereignis. Im Inneren der Kapelle befindet sich ein unbearbeiteter Stein, der als Altarplatte dient, der jenem Stein ähnlich ist, durch den der Heilige starb. Nachdem der Leichnam gefunden war, wurde er an den Ort gebracht, an dem sich heute die schneeweiße Kathedrale erhebt.
Aber die Kirche, die heute zu sehen ist, ist nichts als die im Lauf der Zeit dritte an diesem so wichtigen spirituellen Ort der Stadt errichtete Kirche. Die Arbeiten an der heutigen Kirche wurden im Jahr 1100 vom Architekten Giovanni da Gubbio aufgenommen, aber die vorhergehende Kirche, die auf den Beginn des Jahres 1000 zurückgeht, ist mit einer faszinierenden Geschichte der Volksepik verbunden. Der Bischof Ugo wollte den Sarg, der ihm zufolge die heiligen Überreste von Rufinus enthielt, ausgraben und in die Hauptkirche, S. Maria Maggiore, bringen. Damals befand sich dort nämlich der Bischofssitz. Das Volk, das diesen Ort als Hüter einer großartigen spirituellen Kraft ansah, protestierte heftig dagegen, sodass es zu einem Konflikt mit dem Heer der Kurie kam. Dem Mythos zufolge war es die wunderbare Fürbitte des Heiligen, durch die der Streit beigelegt werden konnte. Der Zusammenstoß zwischen dem Volk und der Miliz erforderte kein Blutvergießen und als die Miliz den Sarg ausgraben und transportieren wollte, fand sie eine Überraschung vor. Das Behältnis aus weißem, gemeißeltem Marmor konnte aus unerklärlichen Gründen nicht aus der Erde genommen werden. 60 Militärs waren nicht dazu in der Lage es zu bewegen. Es brauchte jedoch nur sieben Personen aus dem Volk, um das Behältnis vom Boden hochzuheben. Das Wunder war deutlich, sodass sich Bischof Ugo schnell davon überzeugen ließ, seine Meinung zu ändern. Er ordnete die Verschönerung und Vergrößerung der Kathedrale an und im Jahr 1035 wurde der Bischofssitz dorthin verlegt.
Das Innere der heutigen Kirche wurde im Jahr 1500 vom großen Architekten aus Umbrien Galeazzo Alessi geplant. Der Innenraum ist in drei Schiffe unterteilt, die von majestätischen Rundbögen, gehalten von Säulen mit quadratischem Grundriss, voneinander getrennt werden. Im rechten Schiff befindet sich ein sehr altes Taufbecken aus Marmor, in dem einer Überlieferung zufolge der Kopf aller großen Hauptdarsteller der Geschichte Assisis gewaschen wurde: vom Hl. Franziskus über die Hl. Klara bis hin zu Friedrich II. Weiter vorne, auf der Höhe des dritten Bogens, ist die prunkvolle Capella del Santissimo Sacramento (Kapelle zum heiligsten Sakrament), das großartigste Barockwerk der Stadt, zu finden.
Am Übergang zum linken Schiff ist sehr gut das Alter dieses Gebäudes wahrzunehmen. An der Stelle, an der sich der erste Bogen erhebt, wurde bei den zuletzt durchgeführten Restaurierungsarbeiten der älteste Teil der Kathedrale gefunden. Dort befindet sich die Mauer einer römischen Zisterne, auf der das Gebäude errichtet wurde. Es sind auch die Namen jener Männer dort zu lesen, die den Bau angeordnet hatten: die Marones. Dabei handelte es sich um autochtone Amtspersonen, die sich mit der Verwaltung der Stadt im Namen der Republik beschäftigten.
Wer noch tiefer in die Geschichte dieses Ortes eintauchen möchte, muss nichts anderes tun als in die Krypta hinabzusteigen, wo man sofort in das Jahr 1000 zurückversetzt wird, mitten in den verbitterten Streit zwischen Bischof Ugo und dem Volk Assisis. Hier erfolgten die Auseinandersetzungen, von denen die Geschichte erzählt, und der Sarg, der hier aufbewahrt wird, ist wirklich derselbe, der dem gemeinsamen Willen unterstand und für die Schlechten so schwer und für die Guten so leicht war. Die Krypta war einer der von Franziskus zum Beten gewählter Ort, ähnlich wie ein kleiner, unterirdischer Raum unter der Sakristei der Kathedrale, der als Oratorio di S. Francesco (Gebetsraum des Hl. Franziskus) bezeichnet wird. Man erzählt sich, dass sich der Heilige ausgerechnet in diesen Raum zurückzog, um vor den Predigten in der darüberliegenden Kirche zu beten. Die Krypta ist im Inneren des Ausstellungsbereichs des Museums Museo Diocesano gelegen, das 1941 eröffnet wurde und außerdem noch die Ausstellungsbereiche im Palazzo dei Canonici mit unterirdischen Räumlichkeiten und den Kreuzgang der angrenzenden Kathedrale umfasst. Das Museum beherbergt die sehr seltenen Beispiele für hochmittelalterliche Malerei der Stadt und ist zusammen mit dem Forum Romanum und der archäologischen Sammlung der beste Ort, um die Spuren der alten, römischen und vorrömischen Stadt anhand von Kapitellen, Inschriften und anderen steinernen Gegenständen zu entdecken. Einige Räumlichkeiten enthalten außerdem wertvolle Kunstwerke aus der Renaissance und Vorrenaissance, darunter die Fresken von Maestro di S. Chiara und ein wunderbares Kunstwerk von Niccolò Liberatore, genannt l’Alunno, einer der Hauptdarsteller der Renaissance in Umbrien zusammen mit Perugino und Pinturicchio: Polittico di S. Rufino, in dem der Maler aus Foligno von den Vorfällen des Heiligen, der der Patron dieser Kirche ist, und von seinem Martyrium erzählt.